Hölzel-Journal
Politische Bildung
Von Land A zu Land B – Krim und anderes
17. Juni 2014
Von: Lukas Birsak
Der deutsche Finanzminister Schäuble verglich vor einiger Zeit die Situation auf der Krim nach der Angliederung an Russland mit der Annexion des Sudetenlandes durch das nationalsozialistische Deutsche Reich. Sind solche Vergleiche zulässig oder ist jeder Fall einer Veränderung von politischen Zugehörigkeiten individuell zu betrachten? Eine tabellarische Aufarbeitung kann helfen, einen differenzierten Blick auf historische Parallelen zu werfen.
Muster einer vergleichenden Tabelle
An drei Beispielen wird gezeigt, dass der anerkannte oder nicht anerkannte Wechsel der Zugehörigkeit eines Gebietes unterschiedliche Voraussetzungen haben kann, unterschiedlich abläuft und auch verschiedene Folgen zeitigen kann. Differenzierung ist angesagt, nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen. Völkerrechtlich und diplomatisch kann es auf Feinheiten ankommen, wie eine Situation beurteilt wird, politisch eröffnet eine genaue Betrachtungsweise unterschiedliche Optionen und eine höhere Flexibilität der Reaktion.
Österreich wurde 1938 Teil des Deutschen Reiches, die DDR 1990 Teil des gemeinsamen Deutschlands, und die Krim 2014 de facto ein Teil Russlands. War das jeweils eine Vereinigung, ein Anschluss, eine Okkupation, eine Annexion, eine Eingliederung? Die Begriffe schwanken, ebenso die Beurteilung.
Beispiel 1: 1938 Österreich ⇒ Deutsches Reich | Beispiel 2: 2014 Krim ⇒ Russland | Beispiel 3: 1990 DDR ⇒ BRD | |||
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Status vor Übernahme | unabhängig | autonome Republik der Ukraine | unabhängig | ||
Regierungsform des übernommenen Gebiets | faschistische Diktatur | Demokratie ? | kommunistische Diktatur | ||
Regierungsform des übernehmenden Gebiets | NS-Diktatur | Autokratie ? | Demokratie | ||
Beginn des Prozesses | österreichischer Plan einer Volksabstimmung für Unabhängigkeit | Umsturz der ukrainischen Zentralregierung | Glasnost und Perejstroika in der Sowjetunion | ||
weitere Schritte | Einmarsch deutscher Truppen | Auftauchen von bewaffneten „Selbstverteidigungskräften” | Demonstrationen | ||
Abschluss | Volksabstimmung mit 99% Zustimmung | einseitiger Anschluss an Russland durch Volksabstimmung mit 97% Zustimmung | Zustimmung der Parlamente beider Staaten zum Einigungsvertrag | ||
Einstellung der Regierung des übernommenen Gebiets | Ablehnung eines Anschlusses | Ablehnung durch die ukrainische Zentralregierung, Zustimmung durch die autonome Regionalregierung | Ablehnung der kommunistischen alten DDR-Regierung, Zustimmung durch die demokratisch gewählte letzte DDR-Regierung | ||
Einstellung der Bevölkerung des übernommenen Gebiets | wahrscheinlich mehrheitlich dagegen | mehrheitlich dafür | mehrheitlich dafür | ||
internationale Bestätigung | keine | keine | Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten, den USA, Vereinigtem Königreich, Frankreich und Sowjetunion | ||
Folgen für übernommenes Land | Krieg, politische Verfolgung | ? | demokratische friedliche Entwicklung | ||
historische Bezeichnungen | Anschluss, Annexion | ? | (Wieder-)Vereinigung |
Es ist zu betonen, dass es sich bei den Angaben in der Tabelle tlw. natürlich um politische Einschätzungen handelt (Art der Regierungsform, Ablauf der Ereignisse, Beurteilung der Folgen usw.). Daher sollten die Eintragungen im Unterricht möglichst anhand einer leeren oder nur teilweise ausgefüllten Tabelle erarbeitet werden, um auch unterschiedliche Meinungen diskutieren zu können.
Weitere Hinweise auf die historische Vorgeschichte sind in der Vorbereitung sinnvoll, z.B.
- die Krim wurde erst 1954 vom sowjetischen Staats- und Parteichef Chruschtschow von Russland zur Ukraine geschlagen;
- dass Österreich mit Deutschland vereinigt werden sollte, war schon vor dem Nationalsozialismus eine gängige politische Ansicht (großdeutsche Lösung im 19. Jhdt., Anschluss-Überlegungen und Abstimmungen in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg usw.);
- die Abspaltung der DDR war eine Folge des Zweiten Weltkriegs und wurde von der BRD völkerrechtlich nie anerkannt.
Die Analyse einer solchen Tabelle zeigt bei allen Unwägbarkeiten gut, dass scheinbar ähnliche Ereignisse im Detail doch sehr unterschiedlich sein können. Daran anschließend könnte man untersuchen, was für eine völkerrechtlich „korrekte” Gebietsübernahme notwendig ist bzw. im Völkerrecht schon verankert wurde.
Es gibt in der Geschichte natürlich viele weitere Fälle von Gebietsveränderungen. Einige mögliche Beispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert wären:
Südtirol ⇒ Italien
Texas ⇒ Vereinigte Staaten
Salzburg ⇒ Österreich
Südvietnam ⇒ Nordvietnam
Falklandinseln ⇒ Vereinigtes Königreich
Sudetenland ⇒ Deutsches Reich